06.04.2022
Mit New Work agil für den Frieden und die Freiheit arbeiten
Der russische Angriff auf die Ukraine verursacht unsägliches Leid und es ist ungewiss, was noch alles passieren wird und mit welchen Folgen. Doch im Nebel des Krieges werden auch einige Aspekte sichtbar, die uns Hoffnung machen können und die wir gezielt nutzen sollten: zur Verteidigung der Menschenrechte und zur Bewältigung der Kriegs- und Sanktionsfolgen.
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine schrieb der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev in der ZEIT 10/2022, dass nun das „Zeitalter der Resilienz“ angebrochen sei. Von jetzt an zähle „eher der Schmerz, den man ertragen kann, als der Schmerz, den man zufügen kann“. Die entsprechenden Maßnahmen und die davon ausgelösten Wirkungen rasen gerade im Zeitraffer-Tempo in unseren Alltag hinein. Und die Zeit wird zeigen, welchen Schaden wir alle nehmen werden. Doch sollten wir uns nicht auf das Ertragen beschränken, was ja immer tendenziell etwas Passives ist. Wir sollten uns mit aller Kraft auch dem kreativen Gestalten widmen.
Dieses kreative Gestalten zeigte sich bereits sehr früh und deutlich in der unglaublichen koordinierten und selbstorganisierten Unterstützung für die und in der Ukraine. Und dies hat sehr viel mit der „Digitalisierung“ im weitesten Sinne zu tun, an der wir alle, insbesondere während der letzten beiden Corona-Jahre, Teil hatten. Neben allen technischen Neuerungen umfasst sie vor allem einen enormen mentalen Wandel und eher soziale als technische Ansätze wie „New Work“, „Agilität“ und „Design Thinking“. Bei allen begrifflichen Unschärfen geht es im Kern darum, warum, wofür, wie, wo, wann, womit, wie viel und mit wem wir arbeiten und wie wir dabei miteinander umgehen.
Wie Organisationen haben auch ganze Gesellschaften Werte, Normen, Symbole, Strukturen, Prozesse und Praktiken, die in der Summe eine Kultur bilden; ein „This is how we do things around here“ und entsprechende „Mindsets“ in den Köpfen ihrer Mitglieder, die sich entsprechend verhalten. Unsere westlichen Gesellschaften basieren unter anderem auf Werten wie Freiheit, Menschenwürde, Gleichberechtigung, Demokratie und friedliche Konfliktlösung. All das ist nicht absolut und nicht fixiert. Es kommt in unterschiedlichen Branchen, Hierarchieebenen, Milieus, Generationen, Situationen und Regionen etc. unterschiedlich stark ausgeprägt und entwickelt vor und es befindet sich in permanenter Weiterentwicklung.
Doch grundsätzlich beinhalten dieses Mindset und die oben genannten Konzepte wie New Work, Agilität, der Ideen-Entwicklungs-Ansatz Design Thinking oder auch Critical Action Learning mehr oder weniger stark folgende Prinzipien:
- Postheroismus / Einverständnis von Nichtwissen / offene Reflexion / gemeinsames Lernen anhand von Störungen und Retrospektiven zur Reflexion absolvierter Arbeitsprozesse
- Netzwerke vor Hierarchie / Freiheit vor Kontrolle / Transparenz vor Geheimnisse / Unterstützung vor Befehl / Selbstorganisation / Talente vor Titel
- starke Orientierung an Sinn / Purpose / Leitbildern
- kleine adaptive Schritte statt finaler Planung / iterative Prozesse / Abliefern vor Planung / Ergebnisse vor Dokumentation
- Kunden- und Benutzerperspektive / Empathie / Emotionalität / Feedback
- Diversität / Offenheit / Augenhöhe / Beteiligung / Partizipation
- (virtuelle) Kollaboration / Ko-Kreation
- Aufbrechen von Silos und abteilungsübergreifende Zusammenarbeit / Interdisziplinarität
- Start-up-Kultur mit Innovationsorientierung, schnellen Prototypen und Fehler-Kultur.
Diese Aspekte und Prinzipien zeichnen unsere westlichen Gesellschaften, Organisationen, Arbeitsweisen und auch unser Privatleben während der letzten Jahre zunehmend aus. Sie zeigen sich auf individueller-, Gruppen-, Netzwerk-, Organisations- und Gesellschaftsebene. Und sie unterscheiden uns fundamental von autoritären, autokratischen und diktatorischen Gesellschaften. Sie machen einen Unterschied, wie wir als Menschen miteinander umgehen, wie wir unsere Familien, Freundschaften, Organisationen und Gesellschaften organisieren, wie wir unsere Aufgaben identifizieren und lösen und neues angehen – und, wie wir uns in Konflikten verhalten.
Auch hier im ZMV arbeiten wir mit diesen Ansätzen, z.B. bei der Tiefenberatung, den Workshops der ZMV-Werkstatt, bei Ideenworkshops und den Reflexions- und Aktionsgruppen u.a. zum Thema Unternehmenskultur und anderen Lehr- und Lernkonzepten.
In der Ukraine zeigt sich das westliche Mindset nach dem russischen Angriff beispielsweise an der Nahbarkeit, Vision und Motivation des Präsidenten und der Klitschko-Brüder und der bislang erstaunlich erfolgreichen Selbstorganisation der Selbstverteidigung durch die gesamte Bevölkerung. Außerhalb der Ukraine wird dies deutlich in der realisierten internationalen Hilfe. Viele tun, was sie können und sie tun dies im besten Sinne agil: ausgerichtet auf ein unbestritten sinnvolles Ziel, stehend auf einem festen geteilten Werte-Fundament, in selbstbestimmten Schritten und Aufgabenpaketen und untereinander verbunden durch digitale Kommunikationsmedien, die es ihnen ortsunabhängig ermöglichen, Informationen zu teilen, zu strukturieren, zu priorisieren und letztlich gemeinsame Entscheidungen zu treffen.
Auf der russischen Seite sehen wir stattdessen vor allem: nicht-hinterfragbare Führungspersonen, ein statisches Werte-, Ziel- und Maßnahmen-System; informationelle und emotionale Barrieren zwischen verschiedenen Bereichen, Schichten und Milieus; Zwang, ideologische Lügen, FehlerIntoleranz und in der Konsequenz keine Iterationsmöglichkeiten in Bezug auf Grundannahmen, Werte, Ziele, Strategien und Maßnahmen. Denn jegliche Kritik bedeutet einen potentiellen Gesichtsverlust mindestens einer Führungsperson und damit Gefahr für die Kritisierenden. Daher erscheinen Lernen und Veränderung dort sehr unwahrscheinlich und Eskalation und weiterer Zwang umso wahrscheinlicher.
Jetzt könnte man einwenden: Wenn das dann tatsächlich unsere Stärke und mögliche Strategie wäre, warum sollte man diese dann überhaupt öffentlich machen? Meine These lautet: Weil es autoritären Staaten wie Russland nichts nützen wird. Denn erstens sind wir in unseren westlichen Gesellschaften in diesem Prozess schon sehr viel weiter vorangeschritten. Zweitens tun sich autokratische Systeme grundsätzlich schwer damit, echte Freiheit zuzulassen. Und drittens würde die begrenzte Einräumung von Freiheit im autokratischen Kontext Freiheitserfahrungen ermöglichen sowie Möglichkeiten schaffen, um Empathie, Individualität, Kreativität und Beteiligung zu erleben. Früher oder später würden diese Erfahrungen zwangsläufig mit dem insgesamt unfreien System in Konflikt geraten. Die Unfreiheit des Systems würde umso sichtbarer werden und das Freiheitsverlangen könnte steigen und sich gegen das System selbst richten.
Mein Resümee lautet: Agilität, Co-Kreation und Partizipation funktionieren nicht unter autokratischen Rahmenbedingungen. Oder, um es mit Adorno zu sagen: Es gibt kein richtiges Leben im Falschen: Entweder man ist frei oder man ist es nicht. Teil-Freiheit erzeugt kognitive Dissonanz und performative Widersprüche, die sich wiederum nur mit mehr Unfreiheit, Macht, Gewalt und Verdrängung unterdrücken lassen und sie gerade dadurch am Leben erhalten.
Wir sollten dies zukünftig bewusst beherzigen – bei unserer Unterstützung der Ukraine und anderer gefährdeter Gesellschaften, bei der Verteidigung der Menschenrechte und bei der Bewältigung der Härten, die uns voraussichtlich noch bevorstehen. Und natürlich hätten wir schon längst sehr viel intensiver an den bereits lange bekannten großen Herausforderungen arbeiten müssen. Nun, da sie nicht weniger und sogar immer stärker miteinander vernetzt werden, wird es Zeit, dass wir die ganze Kreativität und Leidenschaft unserer Gesellschaft entfachen, damit wir eine sowohl passiv als auch aktiv resiliente Gesellschaft werden.